Wachsen und Werden

Heute morgen war Zeit für den Moment. Kein Hetzen von einer Aufgabe zur nächsten. Es fühlt sich an, als dreht sich die Welt so langsam wie noch nie. In den Menschen beobachte ich zur Zeit oft das Gegenteil. Sie wirken abgehetzt, verunsichert und haben es schwer diesen Zustand, der ihnen die totale Kontrolle aus der Hand nimmt, anzunehmen. Sie warten scheinbar ohne Unterlass auf den Moment, wo endlich alles wie vorher weiterläuft. Mit einem erleichterten Aufatmen können sie dann in bekannte Abläufe eintauchen und ihre Sorgen vor dem Unbekannten loslassen.

Auch bei uns ist es momentan ein Balanceakt aus einem ganz eigenartigem Stillstand – gefühlt mitten im Auge des Sturms – und all den Dingen, die nun wegen diesen besonderen Umständen erledigt werden wollen. Beruflich sind mein Mann und ich selbstständig und es gibt vieles aufzuholen für uns. Jedes Kind hat eigene Bedürfnisse und wir wollen sie nicht übersehen. Was müssen wir also als erstes tun? Halt.

Wir entscheiden uns für den Moment. Heute morgen ist alles anders als sonst. 8.30 Uhr sitzen wir als Familie am Frühstückstisch. Unsere große Tochter ist nicht wie sonst mit dem Bus zur Schule gefahren. Wir haben bei näherem Nachdenken keinen eiligen Termin für die nächsten Tage ausfindig machen können. Wir können es ruhig angehen lassen, vieles ist gerade ein „kann“, es gibt gefühlt weniger „müssen“. Ein ungewöhnlicher Zustand, aber je mehr ich ihn erlebe, desto mehr spüre ich: So ist es gedacht. Ich darf neu überlegen, was mir wichtig ist, wo ich meine Prioritäten setzen möchte. Ich kann mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen als früher, ihnen Dinge erklären und zeigen, für die im Schulalltag oft wenig Zeit ist.
Wir frühstücken heute morgen nicht gemütlich weil wir es Sonntags immer so machen. Wir entscheiden uns dafür und freuen uns darüber. So richtig von Herzen! Ich habe das Gefühl, es zieht neues Leben bei uns ein. Wir gestalten den Tag bewusster und spüren neu unsere Verantwortung für jeden Moment und jede einzelne Entscheidung. Nichts was ein Mal entschieden ist, muss so bleiben. Ich habe eine Wahl, Verantwortung und Freiheit.
Beim Frühstück denken wir über den Tag nach, als wäre es der erste seiner Art. Und ich glaube, es wird nun jeden Morgen einen ersten dieser einen besonderen Art geben. Jeder Tag liegt neu, wie ein unbeschriebenes Blatt vor uns. Wird es morgen eine generelle Ausgangssperre geben, wie wird sich die Lage entwickeln? Wir leben intensiver, behutsamer und neugieriger als sonst. 

Neues blüht auf.

Und ich staune: Lag nicht jeder Tag unbeschrieben vor uns? Viel zu oft war ich in einem Hamsterrad und habe gehandelt ohne noch einmal darüber nachzudenken. Ich glaube wir fragen zu selten: Will ich das? Tut es dem anderen und mir gut? Bringt es Schönheit, Liebe und Ehre mit sich? Viel zu oft laufe ich in einem System mit und funktioniere. Aber so langsam spüre ich wieder, was ich eigentlich die ganze Zeit in meinem Herzen wusste: Leben geht anders!

Und so genießen wir uns heute morgen neu. Freuen uns über dieses überraschende Sonntagsfrühstück am Mittwoch. Und es ist fantastisch. Die Sonne lacht und die Kinder beschließen mit Papa das Trampolin aus dem Winterschlaf zu holen. Ich werde mich um unser Gewächshaus kümmern und dafür sorgen, dass wir bald frischen Salat ernten. Die Kinder wollen mir helfen und so nutze ich den Moment, ihnen etwas über das Prinzip von Saat und Ernte zu erklären. Ich erkläre es ihnen praktisch anhand des Gartens, aber auch darüber hinaus. Vieles was wir im Leben durch unsere Entscheidungen, Worte und Taten säen, kommt zu uns zurück. Ein Samenkorn das geliebt und gepflegt wird, gedeiht. Am Ende werde ich mit einer Ernte belohnt, die weit über das hinausgeht, was ich in die Erde gelegt habe.

Ein sorglos weggeworfenes Korn ohne Wasser und Licht geht ein. Es gibt so viel Gesprächsstoff bei diesem Thema! Auch dass wir vielleicht manchmal durch schwere Zeiten gehen. Ein Samenkorn geht in die Erde und stirbt scheinbar. Aber was daraus hervorgeht ist Leben! Solche Zeiten können uns stärken und ein ganz neues Leben in uns hervorbringen. Auch die aktuelle Corona-Krise wird positives hervorbringen, wenn wir es zulassen.

Unser heutiges Projekt ist es etwas zu pflanzen. Wir werden im Garten sein und ersten Salat, Kohlrabi und Radieschen anpflanzen.

Ich nutze den Moment um mit den Kindern einzelne Samenkörner zu bestaunen. Ist es nicht gewaltig, dass aus einem einzigen Tomatenkorn nicht nur eine Pflanze, sondern viele, viel Tomaten wachsen? Jede einzelne dieser Tomaten wird wiederum viele, viele neue Samen enthalten! Der reine Überfluss. Was in diesem winzigen Korn steckt: Ein Wunder!

Zu wenig Platz zum Anpflanzen gibt es eigentlich nicht. Eine Fensterbank ist ausreichend. Hier kann beispielsweise in einer Eierschale Kresse gezogen werden. Watte hinein, Samen darauf, angießen, warten. Voila.

Wer einen Balkon hat, kann Tomaten vorziehen. Dafür ist Mitte März der ideale Zeitpunkt. Auch Physalis (ähnlich sind Andenbeere, Ananaskirsche, Kapstachelbeere) eignet sich wunderbar, um zum jetzigen Zeitpunkt ausgesät zu werden. Im Sommer werdet ihr mit leckeren Früchten belohnt. Anstelle eines Blumentopfs kann eine leere Milchpackung Erde und Samen beherbergen.

Und so beobachte ich heute wie unsere Kinder barfuß durch den Garten toben, schimmernde Holzbienen bestaunen und später glücklich übers Trampolin kullern. Laut und wild geht es manchmal zu, aber es fühlt sich heute so leise und sehr, sehr wichtig an. Fast so als könne man den Moment für immer einfangen.

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